Beschluß

In der Wahlanfechtungssache – Az: WP 57/98 –
des Herrn Gerhard Kottschlag
wohnhaft: Am Marienhain 14, 57234 Wilnsdorf

gegen die Gültigkeit der Wahl zum 14. Deutschen Bundestag
vom 27. September 1998

hat der Deutsche Bundestag beschlossen:

Der Wahleinspruch wird zurückgewiesen

Tatbestand

  1. Mit Schreiben vom 23. Oktober 1998, das am 27. Oktober 1998 beim Bundestag eingegangen ist, hat der Einspruchsführer die Wahl zum 14. Deutschen Bundestag am 27. September 1998 angefochten.

    Der Einspruchsführer vertritt die Ansicht, die Anwendung des § 78 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 Buchstabe b der Bundeswahlordnung (BWO) sowie des § 6 Abs. 6 Satz 1 des Bundeswahlgesetzes (BWG) verstoße gegen § 1 Abs. 1 Satz 2 BWG sowie gegen Artikel 3 Abs. 3 Satz 1 und Artikel 38 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) und sei daher verfassungswidrig.

    Das vom Gesetzgeber festgelegte Verhältniswahlrecht unterliege dem Erfordernis des gleichen Erfolgswertes jeder Wählerstimme. Hiervon könne der Gesetzgeber nur aus zwingenden Gründen abweichen. Die in § 6 Abs. 6 Satz 1 BWG verankerte 5 %-Sperrklausel habe zwei den Gleichheitsgrundsatz einschränkende Auswirkungen. Zum einen könne eine Partei, die bei der Wahl nicht mindestens 5 % der Zweitstimmen auf sich vereinige, keine Abgeordneten über ihre Landeslisten in den Bundestag entsenden; das bedeute eine Beschränkung des passiven Wahlrechts der Listenkandidaten dieser Partei. Zum anderen werde bei der Zusammensetzung des Bundestages das Zweitstimmenvotum von Wählern, sofern sie eine Partei gewählt hätten, die weniger als 5 % der Zweitstimmen erhalten habe, nicht berücksichtigt. Dies sei eine Ungleichbehandlung beim aktiven Wahlrecht, da die Stimmen nicht gleichen Erfolgswert hätten. Auch wenn die Beschränkung der Gleichheit der Parteien und des passiven Wahlrechts ihrer Kandidaten ihre Rechtfertigung in der Schutzwirkung gegen die Zersplitterung des Parteienspektrums im Bundestag und der daraus entstehenden Gefahren bei der Bildung einer handlungsfähigen Regierung finde, so könne eine Einschränkung im aktiven Wahlrecht nicht mit den gleichen Argumenten gestützt werden. Die 5 %-Sperrklausel solle erhöhte An forderungen an die Integrationsfähigkeit der Parteien stellen; sie sei nicht zulässig "als Nahelegen eines bestimmten aktiven Wahlverhaltens oder gar als Maßregelung für ein Abweichen des Wählers weg von den großen politischen Strömungen in der Gesellschaft." Der Gesetzgeber habe nicht in ausreichendem Maße versucht, im Wahlgesetz ein Verfahren zu finden, dessen Beschränkungen zum Gleichheitsgrundsatz sich nur auf die Behandlung der Parteien und ihrer Kandidaten auswirken und die Gleichbehandlung der Wählervoten durch gleichen Erfolgswert im höchstmöglichen Maße erhalten würde. Es seien andere Auszählungsvarianten möglich, die eine 5 %-Sperrklausel in vollem Umfang sicherstellen, aber die Gleichheit im aktiven Wahlrecht weit weniger beschneiden würden.

    Nach Aufassung des Einspruchsführers ist auch die Freiheit der Wahl in vermeidbarer Weise verengt. Der Wähler sei bei der Stimmabgabe in seiner Entscheidung nicht frei, die Partei zu wählen, die seine politischen Ziele am besten repräsentiere. Er müsse bei seiner Wahlentscheidung auch berücksichtigen, daß die von ihm favorisierte Partei eventuell nicht die 5 %-Sperrklausel schaffe, und damit die Stimme für die Durchsetzung seiner Interessen verloren wäre, was möglicherweise gerade dem politischen Gegner am meisten nütze. Die Alternative wäre die Stimmabgabe für eine Partei, die mit größerer Wahrscheinlichkeit in den Bundestag einziehen, aber nur einen Teil der Interessen von Wählern vertreten würde. Somit werde ein Wähler, der eine kleine Partei favorisiere, durch das Auszählungsverfahren unter Druck gesetzt, "mit dem Strom zu schwimmen" und eine große Partei zu wählen, um nicht in die Gefahr zu geraten, "alles zu wagen und alles zu verlieren". Da diese Einschränkung der Wahlfreiheit nicht alle Wahlberechtigten gleichermaßen treffe, sondern nur die Anhänger einer kleinen Partei, stelle sie einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundatz dar.

    Weiterhin beanstandet der Einspruchsführer, daß ein Wähler, der mit seiner Stimme bewußt neue politische Strömungen fördern und somit zusätzliche Alternativen in die parlamentarische Auseinandersetzung bringen wolle, fast keine Aussicht habe, an der Zusammensetzung des Bundestages mitwirken zu können. Auch wenn die 5 %-Sperrklausel an sich eine Schutzfunktion für die Demokratie habe, so stelle die ersatzlose Nichtbeachtung der entsprechenden Wählerstimmen aber eine Gefahr für die Demokratie dar, da konstruktive Kleinparteien und ihre neuen Ideen engagierter Mitbürger im Keim erstickt würden und ihre Wähler sich ihres Einflusses auf die Staatsgewalt beraubt sähen. Da die evolutionären Kräfte unterdrückt würden, steige die Gefahr revolutionärer Veränderungen und außerparlamentarischer Strömungen.

    Der Einspruchsführer schlägt ein Wahlverfahren vor, das nach seiner Auffassung die grundgesetzlich geschützten Rechte der Wähler in deutlich höherem Maße berücksichtigen und dennoch die Sperrklausel des passiven Wahlrechts aufrechterhalten würde. Danach sollte dem Wähler freigestellt werden, mit seiner Zweitstimme nicht allein die Partei zu bestimmen, sondern auch zu verfügen, wer für den Fall des Scheiterns an der 5 %-Sperrklausel dann in den Genuß seiner Stimme kommen soll. Praktisch könne diese Verfügung erfolgen, indem der Wähler die Partei seiner Wahl mit einer "1" kennzeichne und die im Falle der 5 %-Sperrklausel ersatzweise bedachte Partei mit einer "2". Sollte auch diese Partei scheitern, könne die Stimme an eine weitere Partei mit der Kennzeichnung "3" weitergegeben werden u.s.w., bis schließlich eine Partei in der Auflistung erscheine, die über 5 % gekommen sei oder die Verfügung des Stimmberechtigten mittels der Numerierung ende. Hierbei könne die Weitergabe auf solche Parteien beschränkt werden, die schon in der Erstauszählung über 5 % gekommen seien, oder aber auch eine Akkumulation der "ererbten" Stimmen als Überspringen der 5 %-Sperrklauses gewertet werden, denn dies beweise eine große Integrationskraft des von dieser Partei vertretenen Programms. Zudem basiere die Akkumulation nicht auf einer Listenverbindung, sondern auf dem Wählerwillen.

    Nach Auffassung des Einspruchsführers hat das von ihm vorgeschlagene Verfahren folgende Vorteile:

    • Die 5 %-Hürde bleibe weiterhin bestehen und mit ihr der Schutz vor Parteizersplitterung.

    • Durch eine ausreichend lange Verfügungsnumerierung stehe es jedem Wähler frei, dafür zu sorgen, daß sein Votum bei der Zusammensetzung des Parlaments berücksichtigt werde. Alle taktischen Abwägungen würden überflüssig; gegen den Strom zu schwimmen wirke sich nicht mehr nachteilig aus.

    • Wer sich von den beschriebenen Problemen nicht betroffen fühle, könne auf den unveränderten Wahlzetteln wie bisher nur mit einem Kreuz ohne Numerierung seine Stimme abgeben. Niemand verliere eines seiner Rechte oder werde in seinen Rechten stärker eingeschränkt.

    • Der Mehraufwand des Verfahrens sei im Vergleich zu dem Gesamtaufwand zur Durchführung der Wahl verschwindend gering.

    Der Einspruchsführer beantragt, aus den genannten Gründen das amtliche Endergebnis der Wahl zum 14. Deutschen Bundestag in geeigneter Weise zu korrigieren.

  2. Der Wahlprüfungsausschuß hat nach Prüfung der Sach- und Rechtslage beschlossen, gemäß § 6 Abs. 1a Nr. 3 des Wahlprüfungsgesetzes (WPrüfG) von der Anberaumung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung Abstand zu nehmen.


Entscheidungsgründe

Der Einspruch ist form- und fristgerecht beim Deutschen Bundestag eingegangen. Er ist zulässig, jedoch offensichtlich unbegründet.

Einen rechtserheblichen Verstoß gegen Grundsätze des Wahlrechts bei den Wahlen zum 14. Deutschen Bundestag läßt sich dem Vortrag des Einspruchsführers nicht entnehmen. Die angegriffenen Vorschriften des § 78 Abs. 2 Satz 1 BWO in der Alternative 5 b sowie § 6 Abs. 6 Satz 1 BWG begegnen auf Grund des Vortrags des Einspruchsführers keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie sind Ausdruck der Grundentscheidungen des Bundeswahlgesetzes für eine Wahl in Wahlkreisen sowie nach Landeslisten mit Sperrklausel, die das Bundesverfassungsgericht für verfassungskonform erklärt hat (vgl. zuletzt BVerfGE 95, 335 ff.). Gesetzgebungspolitische Überlegungen für mögliche Alternativen zum geltenden Wahlrecht begründen keinen Zwang für den Gesetzgeber, diese Alternative einzuführen, schon gar nicht rückwirkend. Das geltende Recht zur Berechnung des Wahlergebnisses nach Landeslisten verstößt weder gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit noch den der Wahlfreiheit. Bei keinem Wahlsystem kann dem Wähler abgenommen werden, sich zwischen Kandidaten und/oder Listen kleiner und großer Parteien zu entscheiden; stets geht er das Risiko ein, daß die Mehrzahl der anderen Wähler abweichend gewichtet. Diese Folge freier Wahlen bewirkt für den einzelnen Wähler keine rechtserhebliche Benachteiligung wegen seiner politischen Anschauungen.

Im übrigen sieht sich der Wahlprüfungsausschuß auch nicht dazu berufen, die Verfassungwidrigkeit von Rechtsvorschriften festzustellen. Er hat diese Kontrolle stets dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten.

Der Einspruch ist deshalb gemäß § 6 Abs. 1a Nr. 3 WPrüfG als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.