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Verfassungsbeschwerde

des Beschwerdeführers
Björn Benken

geboren am xx.xx.19xx,
Staatsangehörigkeit deutsch,
Diplom-Ökonom,
wohnhaft An der Wabe 5, 38104 Braunschweig

wegen
der Unterlassung des Deutschen Bundestages als Gesetzgeber, die Beeinträchtigung der Wahlgleichheit, welche aus der Existenz einer Sperrklausel im Bundeswahlrecht resultiert, mittels Einführung einer Alternativstimmgebung oder einer vergleichbaren Maßnahme abzumildern.




Konkretisierung der Verfassungsbeschwerde und Begründung:

1.) Art. 38 I 1 GG fordert die Gleichheit und Freiheit der Wahl.

2.) Durch die Existenz einer Sperrklausel (§ 6 VI 1 BWahlG) wird die Gleichheit wie auch die Freiheit der Wahl beeinträchtigt.

3.) Es gibt einen zwingenden Grund, der die Sperrklausel und die durch sie ausgelöste indirekte Beeinträchtigung der Wahlgleichheit verfassungsrechtlich legitimiert.

4.) Es gibt hingegen keinen zwingenden Grund, die Einführung von Maßnahmen zu unterlassen, durch welche die aus der Sperrklausel resultierenden Eingriffe in die Erfolgswertgleichheit der Stimmen und in die Freiheit der Wahl abgemildert werden könnten, ohne dabei den eigentlichen Regelungszweck der Sperrklausel zu tangieren.

5.) Eine in diesem Sinne geeignete Maßnahme wäre die Einführung eines Alternativstimmensystems.

6.) Die Unterlassung des Gesetzgebers, eine derartige Regelung einzuführen, basierte offensichtlich lange Zeit auf der Nichtkenntnis einer solchen Option.

7.) Seit dem 30.9.1999, als der Bundestag einen diesbezüglichen Wahleinspruch des Herrn Gerhard Kottschlag zurückwies (Drs. 14/1560, Az. WP 57/98) kann von einer Nichtkenntnis des Alternativstimmensystems nicht mehr länger ausgegangen werden. (Das Datum 30.9.1999 kann folglich als Beginn der Einjahresfrist nach § 93 II BVerfG angesehen werden).

8.) Da es keinen zwingenden Grund (mehr) gibt, den beschriebenen Eingriff in die Gleichheit und Freiheit der Wahl weiterhin zuzulassen, ist die Weigerung des Gesetzgebers, das Wahlrecht nachzubessern und eine Alternativstimmgebung bzw. ein vergleichbares System einzuführen, verfassungswidrig.

9.) Sowohl als Wähler wie auch als Mitglied einer kleinen Partei fühle ich mich in meinem Grundrecht auf freie und gleiche Wahl verletzt.

10.) Ich beantrage deshalb, die Verfassungswidrigkeit des gesetzgeberischen Unterlassens, im Bundeswahlgesetz eine Alternativstimmgebung einzuführen, festzustellen. Hilfsweise beantrage ich, die Pflicht des Gesetzgebers zur Prüfung eines Alternativstimmensystems festzustellen.



Erläuterung der einzelnen Punkte der Begründung:

1.) Art. 38 I 1 GG fordert die Gleichheit und Freiheit der Wahl.

In Artikel 38 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes wird die Gleichheit der Wahl gefordert. Nach gefestigter Rechtsprechung ist hiermit nicht nur der gleiche Zählwert, sondern auch der gleiche Erfolgswert aller Stimmen gemeint. Der Erfolgswert einer Stimme bemißt sich danach, ob diese Stimme bei der Ermittlung der Sitzverteilung des Parlaments das gleiche Gewicht wie jede andere Stimme erhält [vgl. BVerfG 95, 408]. In einem Mehrheitswahlsystem kann es zwangsläufig keine Erfolgswertgleichheit der Stimmen geben. Doch innerhalb eines Verhältniswahlrechts (bzw. in jenem Teil des Wahlrechts, der Elemente der Verhältniswahl beinhaltet) ist der Gesetzgeber im Rahmen seiner Möglichkeiten verpflichtet, eine Erfolgswertgleichheit der Stimmen zu realisieren. Es ist gefestigte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, "daß dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl bei der Verhältniswahl nicht schon dann genügt ist, wenn jede Stimme den gleichen Zählwert hat ... Wenn die Entscheidung für [das Verhältniswahlsystem] fällt, muß ... auch die Wahlgleichheit in ihrer spezifischen Ausprägung für die Verhältniswahl beachtet werden." [vgl. BVerfG 1, 208 (245 f.)]. Diese Position von 1952 hat das Bundesverfassungsgericht seitdem immer wieder bestätigt [vgl. z.B. BVerfG 95, 335 (354)].

Nach herrschender Auffassung in der Rechtsprechung [vgl. zuletzt BVerfG 95, 408 (418)] sowie auch in der Rechtsliteratur beinhaltet das Ziel der Gleichheit der Wahl aus Art. 38 I 1 GG außerdem eine Chancengleichheit der Parteien, deren Mitwirkung im politischen Willensbildungsprozeß von der Verfassung ja ausdrücklich gefordert wird (siehe Art. 21 I GG).

Auch die Freiheit der Wahl darf laut Art. 38 I GG nicht unnötig eingeschränkt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat z.B. in einem neueren Urteil bekräftigt, daß der Grundsatz der freien Wahl "eine Gestaltung des Wahlverfahrens verbietet, das die Entschließungsfreiheit des Wählers in einer innerhalb des gewählten Wahlsystems vermeidbaren Weise verengt." [BVerfG 95, 335 (350)].



2.) Durch die Existenz einer Sperrklausel (§ 6 VI 1 BWahlG) wird die Gleichheit wie auch die Freiheit der Wahl beeinträchtigt.

Durch die im Bundeswahlgesetz verankerte 5%-Sperrklausel wird das Grundrecht auf Gleichheit der Wahl beeinträchtigt, da diejenigen Wähler, die eine Partei gewählt haben, die mit ihrer Stimmenzahl unterhalb der Sperrklausel geblieben ist, keinen Einfluß auf die Sitzverteilung des Parlaments ausüben können. Der Erfolgswert ihrer Stimmen ist vielmehr gleich Null. Das Ausmaß dieser Einschränkung der Wahlgleichheit kann quantitativ gemessen werden. So waren beispiels-weise bei der Bundestagswahl 1998 exakt 2.899.822 Wähler von einer solchen pauschalen Benachteiligung betroffen.

Auch die aus der Verfassung abgeleitete Forderung nach Chancengleichheit der Parteien wird beeinträchtigt, da kleine Parteien bei der Verteilung der Parlamentssitze nicht proportional berücksichtigt werden. Darüber hinaus existiert jedoch eine weitere Benachteiligung kleiner Parteien, welche über die bloße Tatsache, daß Parteien mit weniger als 5% Stimmenanteil von der Sitzverteilung ausgeschlossen werden, hinausgeht. Denn da die Wähler einer kleinen Partei wissen, daß ihre Stimmen aller Voraussicht nach "verloren" sein werden in dem Sinne, daß sie bei der Berechnung der Aufteilung der Parlamentssitze nicht berücksichtigt werden, fühlen sie sich unter einem mehr oder weniger starken psychologischen Druck, entgegen ihrer eigentlichen Präferenz und sozusagen aus taktischen Gründen eine jener Parteien zu wählen, die den Sprung über die 5%-Hürde mit relativ großer Sicherheit schaffen werden. Deshalb ist auch die Freiheit der Wahl für diese Wähler faktisch eingeschränkt.

Die kleinen Parteien bekommen die Kraft dieses "Arguments der verlorenen Stimme" deutlich zu spüren. Sie erhalten weniger Wählerstimmen, als es ihrer tatsächlichen Wertschätzung in der Öffentlichkeit entspricht, was wiederum geringere finanzielle Zuwendungen im Rahmen der Parteienfinanzierung, außerdem eine vergleichsweise schlechte Medienresonanz und eine geringere Motivation der Mitglieder zu aktiver Mitarbeit nach sich zieht. Die psychologische Abschreckungswirkung der Sperrklausel stellt eine gesicherte Erkenntnis der Wahlforschung dar. Die Beeinträchtigung der Chancengleichheit im Bereich des passiven Wahlrechts kann als eine Folge der Beeinträchtigung der Gleichheit im aktiven Wahlrecht gesehen werden.



3.) Es gibt einen zwingenden Grund, der die Sperrklausel und die durch sie ausgelöste indirekte Beeinträchtigung der Wahlgleichheit verfassungsrechtlich legitimiert.

Aufgrund der skizzierten Einschränkungen, die durch die Existenz der Sperrklausel für die Gleichheit der Wahl entstehen, ist wiederholt die Frage nach der Verfassungskonformität der Sperrklausel gestellt worden. Das Bundesverfassungsgericht hat eine solche Verfassungskonformität bisher stets bejaht, doch gleichzeitig festgestellt, daß "aus dem Grundsatz der Erfolgswertgleichheit bei der Verhältniswahl folgt, daß dem Gesetzgeber für Differenzierungen des Erfolgswerts der Wählerstimmen nur ein eng bemessener Spielraum verbleibt. Differenzierungen sind nur unter Voraussetzungen gerechtfertigt, die das Bundesverfassungsgericht seit seiner Entscheidung im Jahre 1952 ... in der Formel eines 'zwingenden Grundes' zusammenfaßt." [BVerfG 95, 408 (418)].

Das Bundesverfassungsgericht hat argumentiert, daß auch eine Regelung, die isoliert für sich betrachtet verfassungswidrig wäre, dennoch verfassungsgemäß sein kann, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, ein höherwertiges Verfassungsziel zu erreichen. Als höherwertiges Verfassungsziel wurde in diesem Fall stets die "Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes ... und die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung" [BVerfG 95, 408] angesehen. Die gewünschte Stabilisierung des politischen Systems kann nach Ansicht des Gerichts nur dann erreicht werden, wenn der "Gefahr der Parteienzersplitterung" Einhalt geboten wird. Das Parlament soll vor einer parlamentarischen Repräsentanz von "Splitterparteien" geschützt werden, um funktionsfähig zu bleiben [vgl. z.B. BVerfGE 1, 208 (249) oder BVerfGE 6, 84 (92)].

Das Verfassungsgericht hat argumentiert, daß die Realisierung des höherwertigen Verfassungszieles Vorrang genießt vor dem Recht auf Gleichheit und Freiheit der Wahl. Es hat lediglich die einschränkende Forderung aufgestellt, daß der (indirekte) Eingriff in das letztgenannte Recht nicht willkürlich erfolgen darf, sondern nur in dem Ausmaß, wie es für die Erreichung des höheren Verfassungsziels erforderlich ist [vgl. BVerfGE 6, 84 (92 ff.) sowie BVerfGE 51, 222 (233)]. Eine Sperrklausel in Höhe von 5vH wurde vom Gericht in diesem Zusammenhang noch als verfassungsgemäß angesehen. Sperrklauseln mit einem höheren Quorum hingegen dürften nur dann als verfassungskonform gelten, wenn eine derartig starke Differenzierung im Erfolgswert der Stimmen durch besondere Umstände gerechtfertigt ist.



4.) Es gibt keinen zwingenden Grund, die Einführung von Maßnahmen zu unterlassen, durch welche die aus der Sperrklausel resultierenden Eingriffe in die Erfolgswertgleichheit der Stimmen und in die Freiheit der Wahl abgemildert werden könnten, ohne dabei den eigentlichen Regelungszweck der Sperrklausel zu tangieren.

Auch wenn die Existenz einer Sperrklausel als politisch unumgänglich und verfassungsrechtlich legitim eingestuft wird, bleibt es dennoch unabdingbare Aufgabe des Gesetzgebers, dem Grundsatz der Freiheit und Gleichheit der Wahl so weit wie nur möglich Sorge zu tragen. Das bedeutet, daß in jedem Fall geprüft werden müßte, ob es Möglichkeiten gibt, die unerwünschten Differenzierungen im Erfolgswert der Stimmen und die Einschränkung der Freiheit der Wahl durch andere verfassungsfreundliche Maßnahmen im Wahlrecht abzumildern oder ganz zu eliminieren. Die Durchführung einer solchen Prüfung ist bisher - nach meinem Wissen - vom Gesetzgeber vollständig versäumt worden. Im folgenden Punkt 5 soll gezeigt werden, daß die Einführung einer in diesem Sinne ausgleichenden Maßnahme sinnvoll und praktikabel ist und daß es verfassungsrechtlich gesehen keinen zwingenden Grund gibt, mit dem eine Unterlassung des Gesetzgebers auf diesem Gebiet weiterhin gerechtfertigt werden könnte.



5.) Eine geeignete Maßnahme wäre die Einführung eines Alternativstimmensystems.

Entgegen der herrschenden Meinung gibt es sehr wohl Möglichkeiten, durch kleine Änderungen im Wahlrecht eine Erfolgswertgleichheit der Stimmen herbeizuführen, ohne gleichzeitig den Regelungszweck der Sperrklausel zu unterlaufen. Dieses Ziel könnte - beispielsweise - durch die Einführung eines Alternativstimmenmodells erreicht werden.

Ein Alternativstimmensystem könnte so ausgestaltet sein, daß der Wähler neben der gewohnten Möglichkeit, auf dem Stimmzettel die von ihm bevorzugte Partei anzukreuzen, alternativ auch die Option wahrnehmen kann, auf seinem Stimmzettel mehrere Parteien in der Rangfolge seiner Präferenz durchzunumerieren. Bei der Auszählung wird dann die Stimmabgabe zugunsten der an erster Stelle genannten Partei ("Erstpräferenz") gewertet, sofern sich in der Gesamtauszählung aller Erstpräferenzen gezeigt hat, daß diese Partei die Sperrklausel überwunden hat. Andernfalls würde die gleiche Prüfung für die in der Präferenz nachfolgende(n) Partei(en) durchgeführt werden, und zwar solange, bis die Stimme auf eine Partei entfällt, die das Quorum erreicht hat. Indem auf diese Weise letzten Endes jeder Wähler eine für die Sitzverteilung des Parlaments relevante Stimme (und nur genau eine Stimme!) abgegeben hätte, wäre ein gleicher Erfolgswert jeder Stimme sichergestellt. Nur in jenem Fall, wo auf dem Stimmzettel keine einzige Partei (auch nicht mit niedrigerer Präferenz) gekennzeichnet worden ist, welche das Sperrquorum erreicht hätte, würde der Erfolgswert dieser Stimme verfallen. Diese Differenzierung im Erfolgswert wäre jedoch verfassungsrechtlich unerheblich, da sie entweder aus einer bewußten, freiwilligen Entscheidung des Wählers resultiert bzw. im Falle der Nicht-Kenntnis der Alternativstimmen-Option ebenfalls in seinem Verantwortungsbereich liegen würde.

Die verfassungsrechtliche Legitimation eines Alternativstimmensystems besteht darin, daß auf diesem Wege eine Erfolgswertgleichheit der Stimmen erzielt werden kann, ohne daß gleichzeitig die Schutzfunktion der Sperrklausel in irgendeiner Form angetastet werden würde. Indem also die Institution der Sperrklausel nicht zur Disposition steht und ihre positiven Wirkungen durch die Reform völlig unangetastet bleiben würden, entfällt der bisher stets ins Feld geführte verfassungsrechtliche "zwingende Grund" für die andauernde Einschränkung des Grundrechts auf gleiche und freie Wahl. Kleine Parteien, die nicht das erforderliche Quorum an Stimmen auf sich vereinigen können, würden bei dieser Regelung nach wie vor von einer parlamentarischen Repräsentanz ausgeschlossen werden; trotzdem würde die Neuregelung es jedem einzelnen Wähler ermöglichen, mit seiner Stimmabgabe über die Zusammensetzung des Parlaments mitzuentscheiden. Dem von der Verfassung geforderten Grundsatz der gleichen und freien Wahl wäre damit Genüge getan, ohne daß Abstriche an der legitimen Schutzfunktion der Sperrklausel vorgenommen werden müßten.

Gelegentlich wird argumentiert, daß es eine "faktische" Schutzfunktion der Sperrklausel gibt, welche höher liegt als ihre "legitime" Schutzfunktion. Oder anders ausgedrückt: die sogenannte "Integrationswirkung" der Sperrklausel resultiert nicht allein aus der Tatsache, daß Parteien mit einem Stimmenanteil von weniger als 5% nicht im Parlament vertreten sind, sondern darüber hinaus führt die geschilderte psychologische Abschreckungswirkung der Sperrklausel zu einer weiteren systematischen Begünstigung großer und etablierter Parteien. Doch auch wenn diese "systemstabilisierenden" Verzerrungseffekte in den frühen Jahren der Bundesrepublik Deutschland politisch wohl durchaus gewollt waren, so muß klar festgestellt werden, daß zumindest in der heutigen Zeit - mit der bisherigen Erfahrung einer äußerst stabilen parlamentarischen Demokratie - eine verfassungsrechtliche Legitimation derartig starker Eingriffe in die Wahlgleichheit und Wahlfreiheit nicht mehr gegeben ist.

Bei einer genauen Analyse der praktischen Auswirkungen der vorgestellten Alternativstimmen-Regelung ist ebenfalls kein zwingender Grund erkennbar, der gegen die Einführung eines solches Systems sprechen würde. Letztlich würde ein Alternativstimmenmodell nur eine kleine wahltechnische Modifikation bedeuten und wäre mit Sicherheit ebenso praktikabel wie die derzeit herrschende Regelung. Die Gestaltung des Stimm-zettels bräuchte nicht verändert zu werden, und jeder Wähler, der dort wie bisher ein Kreuz für seine Lieblingspartei machen würde, hätte eine vollgültige Stimme zugunsten dieser Partei abgegeben. Lediglich für jene Wähler, die mit einer kleinen Partei sympathisieren, würde die zusätzliche Option, eine oder mehrere Alternativstimmen zu vergeben, ggf. von Interesse sein. Die Möglichkeit, mehrere Parteien auf dem Stimmzettel in der Reihenfolge ihrer Präferenzen durchzunumerieren, würde eine klare Erweiterung ihrer Handlungsspielräume darstellen, die die Wähler ausnutzen können, aber nicht ausnutzen müssen.

Was die technische Durchführung der Stimmauszählung betrifft, so ist die eventuelle Befürchtung, ein Alternativstimmen-System würde die Zeitdauer bis zur Feststellung des Wahlergebnisses stark erhöhen, wahrscheinlich unbegründet. Denn erstens müßten nur jene Stimmzettel mehrfach ausgezählt werden, bei denen die Möglichkeit einer Vergabe von Alternativstimmen tatsächlich wahrgenommen worden ist; nur um diesen Anteil würde sich die Dauer der Auszählung in den einzelnen Wahllokalen erhöhen. Zweitens muß berücksichtigt werden, daß die abschließende Ermittlung des Wahlergebnisses (einschließlich der Berechnung der "Effektivstimmen"1, die über die Zusammensetzung des Parlaments entscheiden) mit modernsten Datenverarbeitungssystemen durchgeführt werden kann und insofern keinen erhöhten Zeitbedarf erfordert. Aus einem besonderen Grund kann sogar erwartet werden, daß in vielen Fällen der Ausgang einer Wahl mit Alternativstimmenregelung schneller vorhergesagt werden kann als im derzeitigen Wahlsystem. Man stelle sich zum Beispiel eine Situation vor, bei der einerseits die Parteien A und B und andererseits die Parteien C und D erklärt haben, für den Fall des Wahlgewinns eine Koalition eingehen zu wollen. Die ersten Hochrechnungen ergäben z.B. folgendes Ergebnis: A= 47-48 %, B=4.5-5.5%, C=39-40% und D=7.5-8.5%. Unter der realistischen Prämisse, daß die Mehrheit der Wähler von B mit ihrer Alternativstimme die Partei A gewählt hat, könnte das Wahlergebnis bereits zu einem Zeitpunkt demoskopisch relativ zuverlässig vorausgesagt werden, wo noch gar nicht bekannt ist, ob B die 5%-Hürde gemeistert hat oder nicht.

Im übrigen sei angemerkt, daß es in vielen Ländern der Erde - vor allem im angelsächsischen Sprachraum - eine Präferenzstimmgebung gibt (z.B. als "Single Transferable Vote"), bei der die Wähler ebenfalls verschiedene Kandidaten oder Parteien in absteigender Präferenz numerieren. Dieses Wahlverfahren wird generell als nicht komplizierter beurteilt als die zur Zeit in Deutschland verwendete Methode und führt nach den dortigen Erfahrungen insbesondere nicht zu einem höheren Anteil ungültiger Stimmen.

Doch abgesehen von derartigen Überlegungen müßte letztlich ganz grundsätzlich gefragt werden, ob die derzeit durch die Sperrklausel ausgelösten wahlrechtlichen Ungleichheiten nicht eine Dimension erreicht haben, die verfassungsrechtlich unter keinen Umständen akzeptabel ist und hinter der folglich die Frage der relativen Einfachheit bzw. Kompliziertheit des Wahlsystems als nebensächlich und verfassungsrechtlich irrelevant zurücktreten müßte.

Auch hinsichtlich der politischen Auswirkungen, die die skizzierte Änderung des Wahlgesetzes mit sich bringen würde, ist kein zwingender verfassungsrechtlicher Grund erkennbar, der gegen eine solche Änderung sprechen würde. Die Sperrklausel würde - wie bereits ausgeführt - ihre Schutzfunktion gegenüber einer Zersplitterung des Parteiensystems uneingeschränkt behalten. Nur für den Fall, daß eine Partei tatsächlich von mehr als fünf Prozent der Wähler in Erstpräferenz gewählt wird, wird diese Partei (die man dann schwerlich als Splitterpartei bezeichnen kann!) in den Bundestag einrücken. Anders als im Status quo jedoch würde in einem Alternativstimmenmodell kein Anlaß mehr bestehen, eine Partei zu wählen, die man in Wirklichkeit nicht präferiert (oder präziser ausgedrückt: nicht an erster Stelle präferiert). Auch der Anreiz, dem "wackeligen" Koalitionspartner der Lieblingspartei sogenannte Leihstimmen zukommen zu lassen, würde entfallen. Die Sitzverteilung im Parlament würde also den wahren Präferenzen der Wähler besser entsprechen.

Schließlich sei noch auf die eventuelle Befürchtung eingegangen, das Alternativstimmen-modell würde vor allem den radikalen Parteien unter den Kleinparteien den Einzug in das Parlament erleichtern. Das Gegenteil ist richtig. Denn viele Wähler radikaler Kleinparteien werden nicht bereit sein, ihre Zweitpräferenz an eine etablierte Partei zu vergeben, während diese Bereitschaft bei den Anhängern einer gemäßigten Kleinpartei in hohem Maße vorhanden sein dürfte. Insofern ist zu erwarten, daß Alternativstimmensysteme gerade die Entwicklung jener Kleinparteien fördern, die einerseits eine gewisse grundsätzliche Affinität zu den bereits im Parlament vertretenen Parteien aufweisen, andererseits aber neue Ansätze vertreten, die attraktiv und originell genug sind, um neue Wählerschichten für sich zu gewinnen. Doch selbst wenn das neue Wahlsystem tatsächlich Parteien den Weg in das Parlament öffnen sollte, die im Parteienspektrum außerhalb der bisher dort aufzufindenden Parteien anzusiedeln sind, so muß und wird unsere Demokratie dieses verkraften. Die bisherigen Erfahrungen in der Bundesrepublik Deutschland und in anderen Ländern zeigen, daß die Einbindung einer extremistisch ausgerichteten Partei in die parlamentarische Arbeit eine integrative Wirkung auslöst in dem Sinne, daß diese Parteien sich stärker am Gemeinwohl orientieren und von ihren anfänglichen radikalen Forderungen zunehmend abrücken. Die kritische Bewertung parlamentarischer Arbeit durch die Öffentlichkeit kann oft wirkungsvoller zu einer Entmystifizierung (und letztlich Schwächung) radikaler und populistischer Politikansätze führen als das beharrliche Totschweigen oder die administrative Bekämpfung dieser Ideologien. Diese Einschätzung hat übrigens auch das Bundesverfassungsgericht zu der damaligen Bemerkung veranlaßt, daß "sich Krankheiten des Volkskörpers nicht mit wahltechnischen Mitteln bekämpfen [lassen]." (BVerfGE 1, 208, S.247).

Auch aus der gelegentlich gehörten Behauptung, der derzeitige Zustand der kleinen Parteien würde beweisen, daß diese einfach nicht politikfähig seien, läßt sich kein Argument gegen die Einführung einer Alternativstimmgebung ableiten. Denn selbst wenn man diese Einschätzung zum gegenwärtigen Zeitpunkt als richtig einstufen wollte, so ließe sie sich dennoch nicht auf zukünftige Verhältnisse übertragen. Denn nach Einführung eines Alternativstimmensystems müßte es einer Partei, die wirklich attraktive Politikkonzepte anbietet, langfristig möglich sein, in die Phalanx der etablierten Parteien vorzustoßen. Damit verbunden wäre eine organisatorische und personelle Stärkung der Partei und eine Professionalisierung ihres Auftretens. Wahlerfolge und politische "Reifung" der Partei würden in einen wechselseitigen Prozeß zueinander treten können und sich gegenseitig verstärken - zumindest unter der genannten Voraussetzung, daß das Erzielen positiver Wahlergebnisse nicht durch eine Verzerrung der Freiheit und Gleichheit der Wahl behindert wird. Letzteres jedoch passiert im geltenden Wahlrecht ständig, so daß durchaus der These zugestimmt werden kann, daß viele Splitterparteien nicht aus sich selbst heraus Splitterparteien sind, sondern erst durch das Wahlrecht zu solchen gemacht werden. Die Analyse des Ist-Zustands ohne kompensierende Alternativstimmgebung darf folglich nicht auf einen zukünftigen Zustand mit Alternativstimmgebung übertragen werden, d.h. die beobachtete Politikfähigkeit bzw. -unfähigkeit von Kleinparteien läßt noch keine Rückschlüsse auf Ihre potentielle Politikfähigkeit zu.

Eine stärkere Fluktuation im Parteienspektrum, wie sie durch ein Alternativstimmenmodell unter Umständen begünstigt werden würde, könnte sich für die Gesellschaft positiv auswirken, weil sie eine flexiblere Reaktion auf neue gesellschaftliche Entwicklungen ermöglicht. Wenn beispielsweise die Mehrheit der Bevölkerung politische Positionen vertritt, welche von keiner der im Parlament vertretenen Parteien repräsentiert werden (man denke zum Beispiel an die Debatte um die Einführung des Euro 1996 bis 1998), dann ist hier ein Zustand der politischen Sklerose erreicht, der zumindest bedenklich erscheint. Denn wenn sich Wähler nicht ausreichend repräsentiert fühlen, werden sie entweder radikale Parteien wählen oder gar nicht erst zur Wahl gehen. Insofern ist - auch dies ein positiver Nebeneffekt - im Falle der Einführung eines Alternativstimmensystems mit einer gestiegenen Wahlmotivation zu rechnen.

Die Verwirklichung des Grundsatzes der gleichen Wahl hätte - neben dem Effekt der Wiederherstellung eines individuellen Grundrechts - im übrigen auch eine demokratiefördernde Funktion. Denn je mehr "verlorene" Stimmen als Folge der Sperrklausel-Regelung auftreten, desto größer ist in einem Wahlsystem ohne Alternativstimmgebung die Wahrscheinlichkeit, daß Regierungen sich lediglich auf relative Mehrheiten ("Zufallsmehrheiten") stützen. Relative Mehrheiten jedoch, die nicht gleichzeitig absolute Mehrheiten sind, sind in Wirklichkeit immer Minderheiten. Auch hier soll wieder ein Beispiel helfen, diese Aussage zu illustrieren. Man nehme an, es ständen nur drei Parteien zur Wahl, von denen Partei E 49 % der Stimmen, Partei F 47 % und Partei G 4 % erhalten würde. Bei Existenz einer 5%-Klausel ohne Alternativstimmenregelung würde E den Regierungsauftrag erhalten, auch wenn möglicherweise F und G sehr ähnlich hinsichtlich ihrer Zielsetzungen und ihrer Wählerschaft sind und folglich in einem Alternativstimmensystem die absolute Stimmenmehrheit erzielen würden.

Ein weiterer positiver Nebeneffekt eines Alternativstimmensystems wäre, daß der Wähler endlich von dem psychologischen Druck befreit wäre, die zu erwartenden Wahlergebnisse der von ihm präferierten Partei in sein Wahlverhalten mit einbeziehen zu müssen. Es gäbe kein taktisches Vabanquespiel für den Wähler und in diesem Sinne keine "verlogenen" Stimmen mehr. Positiv wäre auch die deutlich gestiegene Transparenz des Wählerverhaltens zu bewerten. Dies betrifft nicht nur die bereits erwähnte Tatsache, daß Stimmabgabe und wahre Parteipräferenz endlich identisch wären (so daß Demoskopen und Soziologen beispielsweise ein viel verläßlicheres Bild des Wählerverhaltens gewinnen würden), sondern z.B. auch den Effekt, daß der Wähler mit seiner Stimmabgabe (implizit) Koalitionspräferenzen zum Ausdruck bringen kann.

Die Einführung einer Alternativstimmgebung wäre also mit Sicherheit geeignet, die Gleichheit der Wahl zum Teil wiederherzustellen - aber eben nur zum Teil. Wenn ein Wähler persönlich nur eine einzige Partei für wählbar hält und diese Partei an der Sperrklausel scheitert, so wird aus seiner Sicht die Gleichheit der Wahl genauso stark verletzt sein wie im Status quo. Auch wenn er eine Zweitpräferenz angeben würde, so wäre dies für ihn lediglich die zweitbeste Lösung. Die bisher bestehende Ungleichheit im Erfolgswert der Stimmen würde durch diese Option also lediglich abgemildert, aber nicht vollständig beseitigt werden können. Immerhin - und dieser Vorteil ist nicht gering zu schätzen! - entginge der Anhänger einer kleinen Partei aber dem Dilemma, entweder seine tatsächlich präferierte Partei zu wählen und dabei eine "verlorene" Stimme zu riskieren oder aber seine Erstpräferenz verleugnen zu müssen, damit seine Stimme bei der Mandatsberechnung wirksam wird. Zumindest die Freiheit der Wahl würde also durch die Einführung eines Alternativstimmensystems wiederhergestellt werden, da dann im Unterschied zum Status quo jeder Wähler gleichzeitig zwei Ziele mit seiner Stimmabgabe erreichen könnte: 1.) eine "wirksame" Stimme abzugeben und 2.) für seine Lieblingspartei zu stimmen.

Die Gleichheit der Wahl dagegen kann - solange eine Sperrklausel existiert - auch mit der Einführung von Alternativstimmen nicht vollständig realisiert werden, weder für die Wähler noch für jene Parteien, die aufgrund der Sperrklausel von einer parlamentarischen Repräsentanz proportional zu ihren Wahlergebnissen ausgeschlossen werden. Eine solche Einschränkung von Wahlgleichheit und Chancengleichheit der Parteien wird allerdings - wie oben ausgeführt wurde - als verfassungskonform angesehen. Als verfassungswidrig muß dagegen jene Einschränkung der Wahlgleichheit angesehen werden, welche keine zwangsläufige Folge der Existenz einer Sperrklausel darstellt.



6.) Die Unterlassung des Gesetzgebers, eine derartige Regelung einzuführen, basierte lange Zeit offensichtlich auf der Nichtkenntnis einer solchen Option.

Die Untätigkeit des Gesetzgebers hinsichtlich einer (annähernden) Verwirklichung des Verfassungsauftrags der Wahlfreiheit und Wahlgleichheit hat mittlerweile so lange angedauert, daß sie auch unter Beachtung einer gewissen zeitlichen Dispositionsfreiheit und unter Würdigung aller die Verzögerung rechtfertigenden Umstände nicht mehr hinnehmbar erscheint. Auch die Frage einer generellen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Entscheidung für ein bestimmtes Wahlrecht muß in diesem Fall verneint werden, denn dem Gesetzgeber ist dann kein Gestaltungsspielraum zuzugestehen, wenn ein Verfassungsauftrag ohne Not mißachtet wird, d.h. wenn ein durch die Verfassung gefordertes Ziel nicht erreicht wird, obwohl es - zumindest in Teilen - erreicht werden könnte.

Das Versäumnis des Gesetzgebers war solange entschuldbar, wie ihm die Optionen zur (teilweisen) Herstellung einer Gleichheit und Freiheit der Wahl - wie z.B. das oben beschriebene Alternativstimmenmodell - in der Vergangenheit nicht bekannt gewesen sind. So einfach und unkompliziert das vorgeschlagene System in seiner technischen Umsetzung letztlich wäre, so ungewohnt mag es vermutlich den deutschen Wählern und Politikern auf den ersten Blick erscheinen. In der wissenschaftlichen Literatur wird dieser Reformvorschlag zwar schon seit den siebziger Jahren vereinzelt diskutiert und ist dort auch mit viel Lob bedacht worden2; doch letztlich ist das Modell selbst in Fachkreisen immer noch relativ unbekannt. Der Gesetzgeber hat sich mit dieser konkreten Problematik jedenfalls - soweit ersichtlich - bis zur 14. Wahlperiode nie befaßt.

Soweit die nachgewiesene Unterlassung des Gesetzgebers tatsächlich auf einer Nichtkenntnis der zur Verfügung stehenden Optionen beruht, begründet sich hieraus eine unverzügliche Nachbesserungspflicht ab dem Zeitpunkt, wo der Abbau des Informationsdefizits zu einer Neugewichtung der Beurteilungskriterien geführt hat bzw. hätte führen müssen. Weil erst im nachhinein erkannt werden konnte, daß eine Regelung bzw. besser gesagt Nicht-Regelung, welche zunächst als verfassungsgemäß eingeschätzt wurde, bei hinreichendem Wissensstand zu keinem Zeitpunkt verfassungsgemäß gewesen wäre, ergibt sich die Pflicht für den Gesetzgeber, die bisher unterlassene Regelung nunmehr unverzüglich vorzunehmen.



7.) Seit dem 30.9.1999 kann von einer Nichtkenntnis nicht mehr länger ausgegangen werden.

Durch einen Wahleinspruch des Herrn Gerhard Kottschlag aus Wilnsdorf zur Bundestagswahl 1998 ist der Deutsche Bundestag explizit auf die Möglichkeit hingewiesen worden, mittels eines Alternativstimmenverfahrens die verfassungswidrige Verletzung der Freiheit und Gleichheit der Wahl zu beenden. Mit der Ablehnung des Wahleinspruchs am 30.9.1999 (Drucksache 14/1560, Aktenzeichen WP 57/98) hat der Gesetzgeber erstmals zu verstehen gegeben, daß er nicht gewillt ist, seiner Nachbesserungspflicht nachzukommen und Maßnahmen zu ergreifen, den verfassungswidrigen Zustand zu beenden. Gegen die dort geäußerte Auffassung richtet sich die hier vorliegende Verfassungsbeschwerde. Sofern die Einhaltung der Einjahresfrist des § 93 II BVerfGG im vorliegenden Fall eines gesetzgeberischen Unterlassens überhaupt erforderlich ist, so begann diese Frist jedenfalls frühestens am 30.9.1999 und wird von dieser Verfassungsbeschwerde folglich gewahrt.



8.) Da es keinen zwingenden Grund (mehr) gibt, den beschriebenen Eingriff in die Freiheit und Gleichheit der Wahl weiterhin zuzulassen, ist die Weigerung des Gesetzgebers, eine Alternativstimmgebung bzw. ein vergleichbares System einzuführen, verfassungswidrig.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, daß die Beeinträchtigung der Gleichheit bzw. Freiheit der Wahl verfassungswidrig ist. Der Gesetzgeber hat es nicht nur bei der Einführung des Bundeswahlgesetzes versäumt, die im Grundgesetz geforderte Gleichheit der Wahl zu gewährleisten (was ihm nicht vorgehalten werden kann, da die Option eines Alternativstimmenverfahrens zu jenem Zeitpunkt ja noch völlig unbekannt gewesen ist), sondern er hat es auch in der Folgezeit unterlassen, Lösungen zu realisieren, mit denen eine Erfolgswertgleichheit der Stimmen hätte erreicht werden können.

Ich beantrage deshalb, die Unterlassung des Gesetzgebers, eine geeignete Änderung des Bundeswahlgesetzes vorzunehmen, als verfassungswidrig festzustellen (siehe auch Punkt 10).



9.) Sowohl als Wähler wie auch als Mitglied einer kleinen Partei fühle ich mich in meinem Grundrecht auf freie und gleiche Wahl verletzt.

Da ich sowohl Wähler wie auch Mitglied und Funktionsträger (stellv. Kreisvorsitzender) einer kleinen Partei - nämlich der Ökologisch-Demokratischen Partei (ödp) - bin, fühle ich mich in meinem Grundrecht auf freie und gleiche Wahl verletzt. Bei jeder Wahl muß ich mir bewußt sein, daß meine Stimme für die ödp aller Wahrscheinlichkeit nach nicht bei der Mandatsverteilung berücksichtigt wird und ich - zumindest unter diesem Aspekt - der Wahl ebensogut hätte fern bleiben können. Als aktives Mitglied der Partei wiederum muß ich mit der Tatsache leben, daß viele Sympathisanten die Partei nicht wählen, obwohl ihnen die Position der Partei deutlich besser gefällt als die Positionen aller anderen Parteien. Da sie aber ihre Stimmen nicht verloren wissen möchten, wählen sie dennoch eine der etablierten Parteien. Die aus einem solchen Verhalten resultierenden niedrigen Wahlergebnisse der ödp wiederum sind geeignet, meine Motivation, mich aktiv für diese Partei zu engagieren, zu mindern.

In meinen Augen sind zudem die Annahmevoraussetzungen des § 93a IV BVerfGG erfüllt. Einer Entscheidung in dieser Frage käme eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, weil sie verfassungsgerichtlich noch nicht entschieden wurde und weil sie eine wichtige Frage unserer Demokratie betrifft. Die Verfassungsbeschwerde erscheint mir zur Durchsetzung meiner Rechte aus Art. 38 I GG angezeigt, weil der Bundestag bereits zum Ausdruck gebracht hat, daß er seiner Nachbesserungspflicht nicht freiwillig nachkommen wird.



10.) Ich beantrage deshalb, die Verfassungswidrigkeit des gesetzgeberischen Unterlassens, im Bundeswahlgesetz eine Alternativstimmgebung einzuführen, festzustellen. Hilfsweise beantrage ich, die Pflicht des Gesetzgebers zur Prüfung eines Alternativstimmensystems festzustellen.

In der vorstehenden Verfassungsbeschwerde habe ich ausführlich begründet, warum ich den unter Punkt 9 genannten Eingriff in meine Grundrechte als verfassungswidrig beurteile, und bitte an dieser Stelle um Feststellung der Verfassungswidrigkeit des gesetzgeberischen Unterlassens, im Bundeswahlgesetz eine Alternativstimmgebung einzuführen.

Sollte das Gericht jedoch zu der Auffassung gelangen, es könne erst nach einer umfassenden Überprüfung der Auswirkungen der Sperrklausel und eines möglichen Alternativstimmensystems durch den Gesetzgeber eine Entscheidung über das Bestehen einer Nachbesserungspflicht (vgl. VerfGH NRW OVGE 44, 301) fällen, so beantrage ich für diesen Fall hilfsweise, dem Bundestag die Pflicht zu einer intensiven Prüfung der praktischen und politischen Auswirkungen eines Alternativstimmensystems aufzuerlegen.




Braunschweig, den 22. September 2000

Björn Benken



Anlage: Drucksache 14/1560




Fußnoten:

1 Die "Effektivstimmen" einer Partei errechnen sich als Summe jener "Basisstimmen", die die Wähler als Erstpräferenz vergeben haben, und jener Alternativstimmen, die die Partei von Wählern erhalten hat, deren erstpräferierte Partei den Sprung über die 5%-Hürde nicht geschafft hat.
2 Vgl. u.a.: Ulrich WENNER "Sperrklauseln im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland", Frankfurt/M. 1986, S. 412-416; Ernst BECHT "Die 5%-Klausel im Wahlrecht", Stuttgart u.a., 1990, S. 87; Oswald J. WALTER "Ein Diskussionsbeitrag zur Fünf-Prozent-Klausel", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg.17, H.7, S. 913-914.

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