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Symbolbild: Drinnen die Party, alle anderen müssen draußen bleiben - Foto: Björn Benken

Drinnen oder draußen: Macht oder Ohnmacht



Kommentar:

Zum Beschluss Lv 7/22 des saarländischen Verfassungs­gerichtshofs

Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes hatte über eine Wahl­prüfungs­beschwerde zu entscheiden, die die Einführung einer Ersatz­stimme in das Landtagswahlgesetz erzwingen wollte. Sie fußte auf einer Wahlanfechtung, die im Zuge der saarländischen Landtags­wahl am 27. März 2022 (bei welcher satte 22,3 Prozent aller Stimmen keine Berück­sichtigung bei der Sitzverteilung fanden) erhoben wurde und die im Juni 2022 vom saarlän­dischen Landtag zurück­gewiesen worden war.

In der Folge wurde der ursprüngliche Antrag von den Beschwerde­führern präzisiert bzw. abgeändert und der zwischen­zeitlich beauftragte juristische Bevoll­mächtigte verfasste eine weitere Stellungnahme. Am 4. September 2023 verkündete der Verfassungs­gerichtshof, dass er die Beschwerde mit Beschluss vom 4. Juli 2023 zurück­gewiesen hätte.

Das Ergebnis an sich ist keine wirkliche Überraschung. Gerade weil Ersatz­stimmen­systeme noch nirgendwo im Einsatz sind, scheuen sich Gerichte, den Gesetzgeber zu einem solchen Experiment zu verpflichten. Leider spielt auch das 2017er Urteil des Bundes­verfassungs­gerichts, welches von unzu­treffenden Annahmen ausging, noch immer eine unselige Rolle.

Dennoch hätten die Richter und Richterinnen des saarländischen Ver­fassungs­gerichts­hofs Möglichkeiten gehabt, die ihnen zur Verfügung stehenden Räume besser zu nutzen. Dies haben sie nicht getan, sondern sind leider einer größeren Zahl von falschen Annahmen und unzu­lässigen Schluss­folgerungen aufge­sessen. Diese Stellen sollen im Folgenden kritisch kommentiert werden.

Der Einstieg in die veröffentlichte Entscheidung liest sich zunächst noch hoffnungs­froh, weil die von den Beschwerde­führern vorge­tragenen Argumente ausführlich und sachlich zutreffend zusammengefasst worden sind (S. 3-8). Doch damit ist schon fast alles Positive gesagt.

Der Vorwurf, die Beschwerde­führer hätten einen "verdeckten Normen­kontroll­antrag" gestellt (S. 14 f.), dürfte eine Mindermeinung in der Rechts­wissenschaft sein. Dass die Beschwerdeführer diesen Teil ihres Antrags schon explizit zurück­gezogen hatten, fand leider keinerlei Erwähnung; vielmehr wurde ihnen eine Teil-Unzulässigkeit ihrer Beschwerde attestiert.

Auch der Vorwurf, die Beschwerdeführer hätten ihren Begründungs- und Substantiierungs­pflichten möglicherweise nicht Genüge getan, weil sie nicht den Erlass einer bestimmten Regelung eingefordert hätten (S. 17), scheint auf einer falschen Auslegung seitens des Gerichts zu beruhen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist es ausreichend, wenn die Beschwerde­führer einen Handlungs­bedarf des Gesetzgebers nachweisen, ohne dass sie sich darauf festlegen müssten, mit welchen konkreten Handlungen die behauptete Verfassungs­widrigkeit zu beseitigen wäre. Im Gegenteil: Je stärker die Beschwerde­führer den Handlungs­spielraum des Gesetzgebers einengen wollten, desto stärkeren Begründungs- und Substantiierungspflichten würden sie unterliegen. (Das gleiche - falsche - Argument wiederholt das Gericht auch nochmals auf S. 30).

Gleich der erste und offenbar zentrale Satz, mit dem die Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen wird, lautet (S. 18): "Die Wahlen zum 17. Landtag des Saarlandes sind nicht deshalb ungültig, weil nach § 38 Abs. 1 LWG bei der Verteilung der Sitze nur solche Wahl­vorschläge berücksichtigt worden sind, die mindestens 5% der abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben." Damit bezieht das Gericht sich jedoch auf einen Sachver­halt, der von den Beschwerde­führern niemals moniert worden war. Kritisiert wurde vielmehr, dass auf einer der Sitzverteilung vorgelagerten Stufe Wählerstimmen in erheblicher Höhe unberücksichtigt bleiben mussten, obwohl es im Wahlverfahren die Möglichkeit gegeben hätte, die Betroffenen für den Fall des Erfolgswert-Verlust mit einer Neuvergabe ihrer Stimme zu entschädigen.

Der nachfolgende Abschnitt (auf S. 19) beginnt mit den Worten: "Die Wahlprüfungs­beschwerde ist bereits deshalb unbegründet, weil die einfach­gesetzliche Norm des § 38 Abs. 1 LWG den verfassungs­recht­lichen Vorgaben des Art. 66 Abs. 1 Satz 3 entspricht und dessen Regelungs­gehalt unmittelbar umsetzt. Wegen des Vorrangs der Verfassung durfte der Gesetzgeber in § 38 Abs. 1 LWG nicht hinter dem Gehalt des Art. 66 Abs. 1 Satz 3 zurückbleiben." Dies ignoriert die Feinheiten der Materie, indem grobschlächtig unterstellt wird, dass der "Gehalt des Art. 66 Abs. 1 Satz 3" keinen Raum für eine Ersatzstimme lässt. Derartiges ist der Verfassungs­vorschrift aber nicht zu entnehmen. Die Beschwerde­führer greifen ja nicht das an, was in § 38 Abs. 1 LWG drinsteht... sondern das, was nicht drinsteht. Leider stellen die Richter dies regelmäßig anders dar (vgl. auch den dritten Absatz auf S. 19, wo sie zu dem Schluss kommen, die Wahlprüfungs­beschwerde richte sich "notwendiger­weise" auch gegen das in der Verfassung verankerte Sperrquorum).

Auf Seite 19 f. erklären die Verfassungs­richter, sie wären für die Überprüfung etwaiger Verstöße gegen das Grundgesetz nicht zuständig, weil sie einzig und allein Verstöße gegen die Landes­ver­fassung zu prüfen hätten - eine zumindest diskussions­würdige Position.

Dem Gericht genügt schon, dass der Landtag überhaupt eine Evaluation durchgeführt hat (S. 23). Sie stellen dabei allein auf äußere Merkmale ab wie z.B. die Hinzu­ziehung von Sachver­ständigen und die Verab­schiedung bzw. Veröffent­lichung des Berichts, ohne jedoch dessen inhalt­liche Qualität näher zu untersuchen. Es kann jedoch nicht Sinn der Übung gewesen sein, wenn der damals erteilte Prüfungs­auftrag auch durch eine bloße Pro-Forma-Leistung hätte eingelöst werden können bzw. lediglich eine Art Beschäftigungs­therapie dargestellt hätte.

Die Tatsache, dass bei der in Frage stehenden Landtagswahl mehr als 22 Prozent der abgegebenen Stimmen ohne Erfolgswert geblieben sind, beeindruckt den Verfassungs­gerichts­hof nicht. Denn: "Das Ergebnis der Landtags­wahl zum 17. Landtag stellt ein ... bislang einmaliges Ereignis dar und lässt als solches keine Aussagen über künftige Ausgänge zu. Es obliegt dem demokratisch gewählten Gesetzgeber - dem Landtag des Saarlandes -, die Ergebnisse fortlaufend zu überprüfen und dann, wenn sich absehen lässt, dass ein wesentlicher Anteil an Wähler­stimmen ohne Erfolgswert bleibt, korrigierend tätig zu werden." (S. 24 f.).

Diese Position bedeutet letztlich nichts anderes, als dass das Gericht es der freien Beurteilung des - beim Wahlrecht stets von Eigen­interessen gelei­teten - Gesetzgebers überlassen will, wann denn ein "wesent­licher" Anteil von Wählerstimmen betroffen ist. Da aber innerhalb eines 10-Jahres-Zeitraums (der für das schnelllebige politische Geschäft bereits eine gefühlte Ewigkeit darstellt) überhaupt nur zwei oder drei relevante Ereignisse stattfinden, ist es gänzlich ausge­schlossen, dass für diese Ereignisse eine statistisch signifkante Prognose ermittelt werden kann. Die Haltung des Gerichts würde somit de facto in einem Freibrief für den Gesetzgeber enden. Man hätte jedoch sehr wohl eine größere statistische Basis schaffen können, indem man die Ergebnisse der übrigen Landtags­wahlen in Deutschland, die sich sicherlich nicht systematisch von den Ergeb­nissen im Saarland unterscheiden, herangezogen hätte. Die Be­schwerde­führer hatten explizit auf den bundesweiten Trend verwiesen, dass der Anteil jener Stimmen, die bei der Sitzverteilung unter den Tisch fallen, seit den 1970er Jahren stetig am Steigen ist. Der Gerichtshof ist darauf leider mit keinem Wort eingegangen.

Auf S. 26 f. bringt der Gerichts­hof das einigermaßen kurios klingende Argument, dass im Falle einer Abschaffung der Sperrklausel (die von den Beschwerde­führern nebenbei gesagt nie gefordert wurde) "eine handlungs­fähige Landes­regierung nur unter Bildung einer Koalition und unter Eingehung von Kompro­missen [hätte] gebildet werden können". Was für eine Zumutung für die saar­ländische Politik, wo - als absoluter Sonderfall unter allen anderen Bundes­ländern - aktuell eine Ein-Parteien-Regierung an der Macht ist.

Dass die Sperrklausel in ihrer konkreten Form "die in Art. 63 Abs. 1 SVerf normierten Wahlrechts­grundsätze offen­sicht­lich nicht in verfassungs­widriger Weise einschränken" würde, wird zwar postuliert (S. 28), doch in der gesamten Begründung wird diese zentrale Behauptung nicht wirklich belegt.

Der auf S. 29 zu findende Satz: "Die Wahl­gleichheit soll zwar grundsätz­lich gleiche rechtliche Erfolgs­chancen für die Stimmen aller Wahl­be­rechtigen gewährleisten (…). Hieraus folgt aber nicht die Not­wendigkeit, Bedingungen dafür zu schaffen, dass eine abge­gebene Stimme mit Sicherheit zur Zuteilung eines Mandats führen wird" ist für sich genommen nicht falsch, beweist aber nichts; vielmehr wirkt er durch die Verwendung der Wörtchen "zwar" und "aber" und den dadurch hergestellten Sinn­zusammen­hang zwischen beiden Satzteilen suggestiv-manipulativ. Denn es geht nicht um einen sicheren Erfolgs­wert aller Stimmen; ein solcher ist niemals erreichbar. Richtig wäre die Formulierung "mit möglichst großer Sicherheit" gewesen... dann aber hätten die Schluss­folgerungen, die das Gericht aus der Aussage gezogen hat, nicht mehr aufrecht­erhalten werden können.

Auf S. 30 werden Entscheidungen anderer Verfassungs­gerichte zur Ersatzstimme herangezogen, die teilweise hanebüchen sind und jeglicher Logik entbehren. Ein besonders prägnantes Beispiel hierfür ist die 1-Satz-Begründung des LVerfG Schleswig-Holstein von 2013 (Rn. 123).

Der Hinweis des Gerichts, es könne Stichwahlen nur bei Personen­wahlen zur Besetzung einer einzelnen Position geben und nicht bei Wahlen von Partei­listen (S. 30), erscheint haar­spalterisch, da die Beschwerde­führer genau beschrieben haben, welche Funktion eine Stichwahl in diesem Kontext hätte. Sie hätten statt von einer "Stichwahl" auch von einer "Qualifi­kations­runde" sprechen können... doch wahrscheinlich wären sie dann vom Gericht belehrt worden, so etwas gäbe es nur beim Sport.

Unzutreffend ist auch die Formulierung (S. 32): "In der Einräumung mehrerer Chancen liegt eine Privile­gierung bestimmter Wähler, die eine Korrektur ihrer Wahl­ent­scheidung bei Eintritt eines unerwünschten Er­gebnisses - des zu geringen Stimmenanteils der gewählten Partei - herbeiführen könnten, während dies für die übrigen Wähler nicht möglich wäre". In Wirk­lich­keit hat im Dualwahl-Modell jeder Wähler diese grundsätz­liche Möglichkeit. Sie entfällt nur dann, wenn das gewünschte Ergebnis einge­treten ist - doch in dem Fall entfällt logischer­weise auch die Notwendig­keit für eine Korrektur.

Dass eine Unmittelbarkeit der Wahl nicht gegeben sein soll, wenn die Ent­scheidung der Wähler nicht "bedingungsfrei" ist (S. 32 f.), ist nicht schlüssig. Leider wird dies jedoch auch in Teilen der Literatur immer wieder so kolportiert.

Dass einer Ersatzstimme nicht die gleiche Integrations­kraft wie der Hauptstimme zukommen soll und dass "einem solchermaßen zustande­gekommenen Wahl­ergebnis immer der Makel [anhefte], dass es nicht dem eigent­lichen, wahren Wählerwillen entspräche" (S. 34), überzeugt nicht. Denn im Status-quo-System wird der wahre Wähler­wille ja noch viel gewaltsamer verzerrt. Mit der Argumen­tation des Gerichts ist es fraglich, ob man überhaupt Stichwahlen bei Bürger­meister­wahlen durchführen dürfte - was die gesamte Recht­sprechung allerdings anders sieht. Der VerfGH NRW hat im Dezember 2019 sogar geurteilt, dass eine fehlende Stichwahl gegen das Demokratie­prinzip verstößt und somit verfassungs­widrig sei.

Auch der folgende Satz auf S. 34 ist bedenklich: "Ein wie auch immer geartetes Wahlsystem, dass es dem Wähler gestattete, die zunächst getroffene Wahl­ent­scheidung zu korrigieren, eröffnete die Möglichkeit zur ‚taktischen' Stimmabgabe und dazu, die Wahl zu einer ‚Abrechnung' mit den großen Parteien zu missbrauchen, da der Wähler gewiss sein könnte, dass er mit seiner (weiteren) Stimme in jedem Fall Einfluss auf die Zusammen­setzung des Parlaments nehmen könnte". Hier stellt sich die Frage, seit wann man als Wähler bzw. Wählerin seine Stimme nicht mehr dafür einsetzen darf, um mit der Politik der großen Parteien abzurechnen und ihnen durch eine Stimm­ver­weigerung (die in dem vom Gericht gewählten Beispiel ohnehin nur partiell ist, weil sie sich ledig­lich auf die erste Runde beschränkt) einen Denkzettel zu verpassen? Mit dieser Äußerung dürfte das Gericht die Grenzen seiner Neutra­lität überschritten haben.

Auf S. 34 f. geht das Gericht fälschlicher­weise davon aus, dass vor der Erfassung der Ersatz­stimmen die Aus­zählung der Hauptstimmen abge­schlossen sein müsste. Für diese (Minder-)Meinung werden Literatur­quellen angeführt, nicht aber für die von anderen Experten vertretene Gegen­position. Ähnliches passiert leider an vielen weiteren Stellen der Begründung.

Auch der folgenden Schluss­folgerung des Gerichts muss man zumindest in dieser Pauschalität nicht zustimmen: "Es liegt auf der Hand, dass ein solches Verfahren intransparent und fehleranfällig wäre - zwei gra­vie­rende Mängel, welche deutlich schwerer wiegen als der vermeint­liche Mehr­gewinn an Erfolgs­wert­gleich­heit" (S. 35). Ein paar Sätze später wird noch mal wiederholt, dass Ersatz­stimmen­systeme "aufgrund ihrer Komplexität und Fehler­anfällig­keit als kaum praktikabel [erscheinen]". Die Erfahrungen derjenigen Länder, die schon seit Jahr­zehnten erfolgreich Rang­wahl­verfahren einsetzen, lehren etwas anderes.

Ein Satz später kommt dann noch eine halbwegs versöhnliche Schluss­note: "Es ist dem Gesetz­geber vorbehalten, die mit den vorge­schla­genen Möglich­keiten verbundenen Vor- und vor allem Nachteile gegen­einander abzuwägen und danach zu entscheiden, ob § 38 Abs. 1 LWG einer Ergänzung bedarf" (S. 36). Sprich: Wenn der Gesetz­geber ein Ersatz­stimmen­system einführen wollte, dann würde der Verfassungs­gerichts­hof ihn wohl nicht daran hindern.

Alles in allem ist diese Entscheidung eine verpasste Chance, dem Ersatz­stimmen­modell mit seinen viel­fältigen Vorteilen und großen Potentialen eine faire verfassungs­recht­liche Beur­teilung zukommen zu lassen. Man gewinnt den Eindruck, dass der Verfassungsgerichtshof sich nicht wirklich mit den Feinheiten der Argumentation aus­einander­setzen wollte, sondern sich für den leichtesten Weg entschieden hat. Doch wenn noch nicht ein­mal eine Wahl, bei der fast ein Viertel aller Stimmen beim ent­scheidenden Vorgang der Mandats­ver­teilung unter den Tisch gefallen sind, für ein Innehalten und ein kritisches Hinter­fragen der Legitimität der wahl­recht­lichen Instrumente sorgen kann... dann darf man auf absehbare Zeit wohl wenig Hoffnung darein setzen, dass die Gerichte das Grund­gesetz und die Verfas­sungen der Länder gegen den poli­tischen Status quo und die nimmer­satten Macht­ansprüche der herr­schenden Parteien zu verteidigen bereit sind.


Björn Benken
Institut für Wahlrechtsreform




 

 
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