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Björn Benken

Kommentar zu B. Cretney: Instant Run-Off Voting


Wenn eine Partei in einer konkreten Situation besser dasteht, obwohl sie weniger Stimmen erhalten hat als in einer Referenzsituation, ist dies sicherlich paradox zu nennen. Doch solche paradoxen Ergebnisse können letztlich von fast jedem Wahlsystem hervorgebracht werden. (Auch in der Bundesrepublik Deutschland haben wir schon lange mit derartigen Paradoxien zu tun, wie Martin Fehndrich und Wilko Zicht nachgewiesen haben). Wichtig ist natürlich die Frage, ob den Paradoxa in den einzelnen Wahlsystemen eine große praktische Relevanz zukommt oder ob es sich nicht vielmehr nur um theoretische Kuriosa handelt.

Bei dem von Cretney diskutierten Vorschlag eines IRV (Instant Run-off Voting) legt der Wähler auf seinem Stimmzettel eine Reihenfolge für alle (oder nur einige) der zur Wahl stehenden Parteien bzw. Kandidaten fest. In mehreren "Runden" werden nun die Stimmen erfolgloser Parteien an andere Parteien übertragen. Begonnen wird mit derjenigen Partei, die die wenigsten Erstpräferenzen erhalten hat; ihre Stimmen kommen denjenigen Parteien zugute, die auf den betreffenden Stimmzettel an jeweils nächster Stelle genannt sind. Dieses Verfahren wird dann mit den verbleibenden Parteien so lange wiederholt, bis entweder z.B. nur noch eine Partei/ ein Kandidat als Gewinner verbleibt (wie in Cretneys Beitrag) oder bis eine bestimmte Grenze wie z.B. die 5%-Hürde erreicht ist.

Das in Cretneys Beitrag beschriebenen Paradox ist mathematisch möglich - aber ist es auch wahrscheinlich? Ausgehend von jenem Alternativstimmenmodell, das ich in meiner Verfassungsbeschwerde vorgeschlagen habe, halte ich ein Auftreten derartiger paradoxer Effekte für sehr unwahrscheinlich, und zwar aus den folgenden Gründen:
1.) Je weniger die Wähler die Möglichkeit der Präferenzwahl ausschöpfen (das heißt: statt eines Durchnumerierens der ganzen Liste nur ein oder zwei Parteien auswählen), desto unwahrscheinlicher wird das Auftreten eines paradoxen Effekts.
2.) Je früher mit der Übertragung der Stimmen aufgehört wird (im von mir vorgeschlagenen Wahlsystem ja schon bei Parteien, die 5 Prozent der Stimmen erreicht haben - und nicht erst dann, wenn nur noch zwei Parteien übriggeblieben sind und eine davon die absolute Mehrheit der Sitze zugeteilt bekommt, oder wenn gar nur eine Partei zum Schluß übrigbleibt), desto unwahrscheinlicher wird das Auftreten des beschriebenen paradoxen Effekts.
3.) Wenn sich die Stimmübertragungen kumulieren können (d.h. die stimmschwächste Partei zuerst aussortiert wird, dann die zweitschwächste usw.) ist der genannte Effekt wahrscheinlicher, als wenn nur eine einzige Runde der Stimmenübertragung stattfindet. Ich persönlich halte eine einmalige Stimmübertragung ohne Kumulation für ausreichend.
4.) Der paradoxe Effekt ist nur dann möglich, wenn eine Wählerwanderung zwischen Parteien stattfindet, die sich politisch sehr fern stehen. Nehmen wir ein willkürlich gewähltes Beispiel: die CDU hat 40% der Erstpräferenzen auf sich vereinigt, SPD und PDS je 30%. Nun wäre es für CDU-Anhänger strategisch sinnvoll, der PDS ein paar Leihstimmen zukommen zu lassen, so daß die SPD-Stimmen verteilt werden müßten (von denen die CDU dann sicher auch einige abbekommen würde). Würden hingegen die PDS-Stimmen verteilt werden, wäre wahrscheinlich die SPD der Wahlsieger. Aber: das hierfür nötige Wahlverhalten der CDU-Anhänger ist in der Praxis doch sehr unwahrscheinlich. Meiner Ansicht nach ließe sich ein solches Verhalten allenfalls mit der Annahme vollkommen rationalen Verhaltens der Akteure (im üblichen wissenschaftlichen Sinne) erklären, d.h. einschließlich dem Vorhandensein vollständiger Information. Hier wäre es dann theoretisch denkbar, daß Wähler aus rein strategischen Gründen diejenige Partei wählen, die ihrer eigentlichen politischen Überzeugung am fernsten steht. Unter dem "Schleier des Unwissens" hingegen, der bezüglich der Stimmenverteilung in der Praxis (ex ante) realistischerweise unterstellt werden muß, sind die angeblichen "mathematischen Tücken" in meinen Augen nichts weiter als spieltheoretische Konstrukte ohne praktische Bedeutung.



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